Mit Läusen und Flöhen zum Leben bei Gott

Was ist der Mensch?

Ein sehr dunkler man of colour – so etwa müsste es heute politisch korrekt heißen – zeigt im Eingangsbereich des Krankenhauses Zettel und Kuli. Hier hat man die Eintrittskarte für die Chance auf Heilung zu lösen. „Du hast vergessen, das auszufüllen“, sagt er mir dann mit einem freundlichen Lächeln. Stimmt, da fehlt ja noch der Name der Patientin.

Die Stühle im Eingangsbereich der Onkologie sind hart; natürlich, denn sie müssen ja immer wieder desinfiziert werden können und außerdem wird man hier sowieso die meiste Zeit liegend verbringen. Von meinem Bett aus kann ich später auf das Kreuz in unserem Zimmer blicken. Schön, dass es, ein bisschen beschädigt zwar, an die Wand gegenüber genagelt ist. Genagelt wie an ihm der Herr.

Ein sehr junger Afghane wird meine sehr alte Zimmergenossin gleich frischmachen. Die beiden erledigen es in großer Würde. In der Tagespost aus meinem Lesevorrat stand gerade ein Beitrag über die Not der afghanischen Helfer und einen Verein, den ein deutscher Major für sie gegründet hat. Der junge Mann freut sich sehr darüber und über die Adresse.

Mit Joseph Ratzingers Eschatologie, seinem Werk über Tod und ewiges Leben, mache ich mich für die Zeit der Pflege meiner Leidensgenossin auf zu den harten Stühlen.

Die Säkularisierung des christlich-eschatologischen Denkens hat, so schreibt er, zunehmend Kraft aus dem gläubigen Bewusstsein abgezogen. „Das `Heil`, das der Glaube verheißt, verdünnt sich damit zu `Seelenheil`, von dem sich das `Glück` abspaltet.“ Das Heil hatte die Welt als Ganzes und jeden einzelnen gemeint, Seelenheil und Glück sind aber nur noch Teil des Ganzen und werden bald schon zu natürlichen Gegnern. Je mehr es um das Glück und nicht mehr um das Heil der Seele geht, desto schaler wird es. Das Glück als „kleiner spießiger Geselle gegenüber der Hoffnung“ danke ab zugunsten der Zukunft der Welt. Eine neue Welt muss geschaffen werden. Eine Welt, gemacht nach unseren Plänen. Eine gerade so oft auch heillose Welt.

Ja, genau so ist weitgehend gerade unsere Situation.

Einer von sechs Krankenhausseelsorgern besucht uns. Wir unterhalten uns kurz. Er wird noch einmal kommen, wenn die Gelegenheit günstiger ist.

Später erfährt man über die Lautsprecheranlage im Zimmer, dass um 18 Uhr ein kleines Orgelkonzert aus der Kapelle übertragen wird. In der Nacht bietet sich ein ganz anderes Konzert: Zweistimmig und in unterschiedlichen Rhythmen hat sich die Bettnachbarin aufgemacht, um die Bäume des Spessarts schnarchend zu durchsägen. Zum Glück kann man über den Computer am Bett neben vielen Fernseh- und Radiosendern auch Radio Horeb hören. Unter anderem berichten junge Leute mit großer Freude darüber, wie sie zu Jüngern Jesu wurden.

Der junge Mann, der mich zu einer Untersuchung fährt, – auch er duzt mich – ist aus Kroatien. Wir erzählen uns von dem Krieg, den vielen Toten, dem Leid, von dem auch er viel weiß. Damals bin ich mit dem letzten Flug noch in Zagreb gelandet. Mitten im Grauen, das man nie vergessen kann. Unsere Gesellschaft aber versucht immer mehr, Leid und Tod zu verschweigen.

In Afghanistan, Syrien, Somalia, Äthiopien kann man das nicht, doch in den Ländern des Wohlstands macht man Krankheit, Sterben und Tod zu technischen Spezialproblemen, die in den dafür vorgesehenen Einrichtungen entsprechend behandelt werden. „Sie sind – so Professor Ratzinger – nicht mehr physisch-metaphysische Probleme, die im Bereich einer Lebensgemeinschaft erlitten und bewältigt werden müssen, sondern technische Aufgaben, die von Technikern technisch behandelt werden.“ Und die „Dehumanisierung des Todes zieht mit Notwendigkeit die Dehumanisierung des Lebens nach sich. …Mit der Einstellung zum Tod ist die Einstellung zum Leben mitentschieden: Der Tod wird so zum Schlüssel für die Frage, was eigentlich der Mensch ist.“

Auf dem harten Stuhl meines ständigen Exils wenn die Pflege meiner Bettnachbarin ansteht, höre ich die Frage einer jungen Schwester an eine ältere was denn jetzt mit der eben gestorbenen Frau zu geschehen habe. Das erklärt die plötzliche Änderung der Atmosphäre. Bisher wurde viel gelacht, waren die Pflegekräfte fröhlich. Doch dann war es auf einmal merkwürdig still und der Flur sehr leer. Auf onkologischen Stationen wird viel gestorben. Und wenn Ärzte, Schwestern und Pfleger nicht herzlos sind, müssen sie trotz aller Professionalität jedes mal erneut mit dem Tod eines oft längst vertraut gewordenen Menschen zurecht kommen.

Irgendwie verschwimmen nun die Gebete für die jetzt Verstorbene, für alle Kranken hier und überall auf der Welt. Sie verschwinden in einem Nebel von wirren Gedanken. Gott aber kennt alle diese vergeblichen Versuche.

Auf einem Plakat vor der Kapelle mit dem ganz eigenen sehr eindrucksvollen Kreuzweg kann man lesen, dass in der Heiligen Messe am Mittwoch auch die Krankensalbung empfangen werden kann. Und dass an jedem Donnerstag die Segnung der Neugeborenen möglich ist – ein ganz besonderes Angebot.

Die Operation am Hals ist abgesagt, weil sich im Magen die Quelle der Metastasen gefunden hat. Der Arzt hatte mein Buch gesehen und gemeint, da hätte ich das Richtige mitgebracht. Er meint es nicht spöttisch und es tut gut, zu wissen, dass der ein oder andere im Haus offenbar damit etwas anfangen kann. Nun wird aber noch eine Darmspiegelung angesetzt. Warum, wenn Sie doch die Quelle des Übels gefunden haben? Die nette Onkologin sagt, es komme nicht allzu oft vor, aber man könne ja doch Läuse und Flöhe gleichzeitig haben. Das zu trinkende Mittel schmeckt schlechter als alle anderen zuvor und die hohe Fontäne aus meinem Mund könnte jedem kleinen Springbrunnen Konkurrenz machen.

Das Ergebnis der Bemühungen: Läuse und Flöhe.

Nun gibt es einen ausführlichen Behandlungsplan, ein Port wird implantiert werden, durch den man den Patienten alles zuführen kann, was ihnen weiterhelfen soll. Die vierzehntägigen stundenlangen Sitzungen der Chemotherapie bieten dann die Chance, den Rest des so lieb gewordenen Buches zu lesen.

Heimfahrt im Taxi. Der Fahrer fragt, ob es im Krankenhaus gut gegangen sei. Er erzählt von einem Patienten, den er gefahren hat, der sechs Wochen im Koma lag und jetzt wieder laufen kann. Das meint er, schaffe ich auch. Natürlich, sage ich, werde ich alles tun, was hilft, aber ich bin ja auch katholisch und glaube an das Leben nach dem Tod. Insofern muss ich mich nicht allzu sehr sorgen. Ja, sagt er, alles Leben kommt von Gott. Ich: Das Leben ganz am Anfang bis zum Ende.

Da erzählt er ein Geheimnis. Seine Frau habe vor Jahren ihr Kind abtreiben wollen. Sie habe schon alle Unterlagen gehabt. Er sei unglücklich gewesen, habe aber nicht viel machen können, da sie ja die Frau sei.

Dann hat sie das Kind doch bekommen, es ist wunderschön, hat in der Schule keine Note, die schlechter als zwei ist, geht aufs Gymnasium und er fragt sich immer wieder, wie sie daran denken konnten, dieses Kind abzutreiben. So viele wichtige Menschen, wie etwa der Gründer von Biontech, würden so sehr fehlen, wenn man sie schon im Mutterleib getötet hätte. Dann sagt er das, was uns auf allen Demonstrationen gegen die Abtreibung entgegengeschleudert wird: Hätte Maria abgetrieben… Aber er, der Moslem, meint es ganz anders: Wenn Maria Jesus nicht bekommen hätte, hätten Milliarden von Menschen nicht die Chance gehabt, Christen zu sein. Das fände er schade.

Der nette Fahrer stellt noch die Tasche vor die Türe.

Wieder daheim. Mit Läusen und Flöhen aber auch jetzt der Gewissheit, dass Krankheit, Sterben und Tod zum Leben gehören. Sie sind Teil unseres Menschseins. Man darf und soll darüber reden, weil Christus nicht wie ein ferner Gott, sondern von grausamen Schmerzen geplagt, am Kreuz und dann mit seiner Auferstehung am dritten Tag den Himmel für uns geöffnet hat. Und weil „Gott der Gott der Lebendigen ist und sein Geschöpf, den Menschen, beim Namen ruft, darum kann dieses Geschöpf nicht untergehen.“

Mit Läusen und Flöhen also und Leib und Seele unterwegs zu ihm, in dem wir leben.

Ursula Zöller

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